Das Dilemma hybrider Veranstaltungen

Fast zwei Jahre mit digitalen, hybriden und jetzt auch wieder (kleinen) Veranstaltungen vor Ort liegen hinter uns. Aktuell wird zwar sehr viel über hybride Veranstaltungen gesprochen, ich sehe aber aus meinen Erfahrungen heraus ein großes Dilemma, dass ich in diesem Blog-Beitrag mal umreißen will.

Im ersten Schritt beschreibe ich mal, welche Elemente wir bei der Planung von Veranstaltungen wie Konferenzen, Un-Konferenzen (Barcamps, Open Spaces, etc.), Hackathons usw. mit einbeziehen. Mit kleinen Modifikationen kann man das Modell beispielsweise auch für Messen oder den Hochschul-Betrieb anwenden. Bei der Planung unterscheiden wir im Modell auch nicht, ob es sich um öffentliche oder interne Veranstaltungen handelt.

Vor Ort stattfindenden Veranstaltungen ist gemeinsam, dass die Teilnehmer_innen anreisen und untergebracht werden müssen. Die Anreise erfolgt i.d.R. im Auto (individuell oder in Gruppen) oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln wie Bus und Bahn. Bei international stattfindenden Veranstaltungen muss zusätzlich auch geflogen werden. Die Unterbringung kann z.B. in Hotels/Pensionen, gemeinsam in temporären Mietwohnungen (Airbnb, Couchsurfing & Co.) oder bei Freunden erfolgen.

Auch die Veranstaltungsorte unterscheiden sich konzeptionell meiner Erfahrung nach wenig. Man Betritt die Veranstaltung über eine Lobby, in der meist auch ein Checkin vorhanden ist. Dort gibt es dann ein Plenum (bei großen Veranstaltungen/Messen mehrere Plena), in das für Eröffnung und Keynotes alle passen. Für kleinere Vorträge oder die Session bei Barcamps gibt separate Räume (meist 5-10). Für das leibliche Wohl in Mittags- und Kaffeepausen wird in einem oder mehren Gastrobereichen gesorgt. Bei mehrtägigen Veranstaltungen gibt es eine Abendveranstaltung z.B. mit Conference Dinner oder Party für den informellen Austausch in lockerer Runde.

Ein zentrales Element von Veranstaltungen ist, auch wenn das oft gar nicht bewusst wahrgenommen wird, was man im englischen den “Hallway Track” nennt. Das ist der oder die Gänge, die die einzelnen Orte der Veranstaltung verbinden. Dort befinden sich immer Leute, sprechen miteinander, trinken einen Kaffee zusammen und vernetzen sich (in einem früheren Blog habe ich das mal als die “Zwischenräume” einer Veranstaltung bezeichnet). Tim beschreibt das in seinem Blog so:

But what exactly is a hallway track? The phrase is a reference to conferences having different tracks of presentation content. For example, there might be a series or track of discussion on one topic (e.g., security, networking, storage or community), or a series of lightning talks or birds of a feather sessions. These are formal sessions in reserved rooms, taking place at specific times on the official schedule. The hallways in the event center are filled with people moving between these formals sessions, and they naturally start mixing and mingling with each other. This usually leads to some fascinating unscheduled conversations. These informal discussions form the so-called “hallway track.”

Dass der Hallway Track ein sehr bedeutender Ort ist kann man auch daran sehen, dass dort oft die Sponsoren (bei kommerziellen Konferenzen und Messen) oder die Poster Sessions (bei wissenschaftlichen Konferenzen) platziert werden. Bei der Planung von Online-Veranstaltungen haben viele Veranstalter diesem Hallway Track keine oder kaum Bedeutung beigemessen. Der Bereich wurde nicht oder nur lieblos gestaltet.

Jetzt komme ich zu dem Dilemma, das ich für die Zukunft von öffentlichen und internen Veranstaltungen sehe:

  1. Lessons Learned: Wir haben gelernt, dass Plenum, Vorträge, Barcamp-Sessions und Messestände online mit Videokonferenzen sehr gut abgebildet werden können, dafür brauchen wir eine Zusammenkunft vor Ort nicht mehr.
  2. Mehrwert 1: Für die Teilnehmer_innen fallen bei Online-Veranstaltungen mehrere Werte der Veranstaltung weg: 1.) die gemeinsame Anreise mit Bekannten und Kollegen 2.) die gemeinsame Unterkunft mit Frühstück, Hotelbar & Co. 3.) die vielen informellen und zufälligen Begegnungen im Hallway Track, der Gastronomie und der Abendveranstaltung. Sie sind damit auch nicht mehr bereit, hohe Eintrittspreise zu bezahlen (bei kommerziellen Veranstaltungen).
  3. Mehrwert 2: Für die Sponsoren (bei kommerziellen Veranstaltungen) fällt die Platzierung am Hallway Track und damit ihre Kommunikations- und Verkaufschancen weg. Sie sind damit dann nicht mehr bereit, teure Sponsoring-Pakete zu kaufen.
  4. Tools als Ersatz: Technolgien wie Remo, Wonder, Workadventure & Co. zwar versuchen, einen Ort wie den Hallway Track nachzubilden, kommen dabei aber an die Vor-Ort-Variante bei weitem nicht heran. Ich sehe aktuell auch keine Technologien, die das zu leisten vermögen.

Was denkt ihr dazu? Was sind Wege und Möglichkeiten, dem Dilemma zu begegnen? Welche Erfahrungen habt ihr dazu in der Praxis gemacht? Wer mag dazu in den Kommentaren Gedanken und Ideen beisteuern?

 

4 Kommentare zu „Das Dilemma hybrider Veranstaltungen“

  1. Danke für den Aufschlag, Simon! Diese Diskussion ist wichtig und wird noch eine zeitlang notwendig sein!

    Online-Events sind funktionaler, kostengünstiger und strukturierter als Präsenz. Zufälle sind kaum möglich (eher unerwünscht, da mit der Technik und den Tools kaum zu handhaben), dafür ist die Konzentration auf das Thema und die Aufgabe hoch. Sie können vorher definierte Aufgaben gut bewältigen

    Präsenz ist erlebnisorientierter, persönlicher, zufälliger und erlaubt, dass spontan Neues entsteht. Vieles, was den Spaß bei Konferenzen ausmacht (hallway track: persönliche Begegnung, neue unerwartete Kontakte, Gespräche, Abendevent, gemeinsame Anreise und Gespräche außerhalb des Büroalltags, neue persönliche Beziehungen) erscheinen zunächst mal im Vergleich zum Zeitverbauch und den Kosten eines online-Events als verzichtbar. Man spart online sehr viel Zeit und sehr viele Kosten.

    Aber haben wir nicht gerade durch BarCamps gelernt, dass der hallway track der langfristig betrachtet produktivste Teil der ganzen Veranstaltung ist?
    Wir können problemlos ein Barcamp online durchführen, dass haben die letzten 1,5 Jahre ausreichend bewiesen. Wir können den online-Camps auch die Kreativität, die Möglichkeit zur Vernetzung, zu persönlichen Kontakten nicht völlig absprechen.

    Aber online und Präsenz liegen auf gegenüberliegenden Seiten einer Skala, ohne ausschließlich die Extreme zu besetzen.

    Beides in hybriden Veranstaltungen zusammenzubringen, scheint mir nicht wirklich zu gelingen.

    Ich denke, die Lösung liegt in Richtung einer neuen Veranstaltungslandschaft, in der online und Präsenz ihre Rollen haben. Vieles, was bisher in Tagungen geschieht, wie Vorträge, Präsentationen, Diskussion von Fachthemen, kann online stattfinden. Also weniger Präsenzveranstaltungen, mehr online. Dafür sollte in Präsenz der hallway track ausgebaut werden. Mehr Wert auf Begegnungen legen als auf Wissensvermittlung. Kreativität und Emergenz zulassen. Das bedeutet, eine Vielzahl von Begegnungsräumen zu schaffen. Den Spaßfaktor nicht als add on (Abendevent), sondern als notwendiger Teil der gesamten Veranstaltung sehen. Folienvorträge eliminieren, wenn Input gebraucht wird, kann der, wie im inverted classroom, vorher zur Verfügung gestellt werden (z.B. mit Videos). Der gesamte Wissens- und Informationsteil kann vorher online stattfinden.

    Online kann die persönliche Begegnung, Emergenz, Kreativität und Zufälle nicht in gleicher Form wie Präsenz hervorbringen und nutzen.

    Also ist die Lösung aus meiner Sicht, die Karten neu zu mischen und jeweils die Stärken von online und Präsenz gezielt zu nutzen.

    Das würde wohl dazu führen, dass 3 bis 5 online-Events sich mit einer ausführlichen Präsenzveranstaltung abwechseln.

  2. Danke Simon für den interessanten Beitrag, dem ich aus vollem Herzen zustimmen kann.
    Ich gebe Dir auch Recht, dass Tools wie wonder.me im Moment nicht die Hallway Talks ersetzen. Das könnte aber auch daran liegen, dass wir sie noch entsprechend einsetzen.

    Was wäre z.B. wenn wir vor einer Veranstaltung ein Treffen in wonder.me (hier nur als ein Beispiel Tool genannt) vorschalten. Wir können darin ja sogar eine “Hallway” nachbauen oder abbilden ;-)
    Auf jeden Fall könnten wir den Teilnehmern damit die Möglichkeit geben, sich vorher und dann auch zwischen den einzelnen Sessions kennenzulernen.
    Vielleicht sollten wir als Veranstalter noch den einen oder anderen Anreiz setzen, damit sich die TN dort auch tatsächlich aufhalten und sich austauschen. Klar das ist noch ne Menge Kreativität gefragt, ich bin mir aber sicher, dass wir die Möglichkeiten dieser Tools noch bei weitem nicht ausgeschöpft haben.

  3. Folgende spontane Gedanken:

    Ich habe etwas Schwierigkeiten mit dem Titel, denn es werden Online- und Präsenzformate gegenübergestellt – unter Hybridveranstaltung hätte ich vom Begriff her die Beschreibung einer Veranstaltung erwartet die in Präsenz stattfindet und weitere Teilnehmer nur online dabei sind und die Herausforderungen der Interaktion beider Gruppen. Das vermisse ich allerdings im Text. Oder habe ich ein falsche Erwartung? Für das Trainingsumfeld kann ich allerdings aus Erfahrung sagen, dass solche Formate schwieriger sind als die beiden Reinformen.

    Wie schon Charlotte gesagt hat, bekommen wir die fachlichen Inhalte gut online rüber. Spannend ist da eher die Frage wie sich das mit den Finanzen entwickelt. Hier stehen wir im Spannungsfeld zwischen kostenfrei (was die meisten Veranstalter wohl eher anfangs gemacht haben um die Schwelle zu senken) und einem angemessenen Beitrag. Wobei der niedriger ausfallen sollte, da die ganzen Vor-Ort-Kosten wegfallen.

    Das Thema Hallway sehe ich differenziert.
    + Ich denke ein einfacher Nachbau einer physischen Hallway funktioniert nur bedingt, hier braucht es vermutlich neue, dem Medium online angepasste Formen (bitte keine Werbespots im Plenum).
    + Für mich als Introvertierter will ich sagen, dass der ganze Rummel (Anreise, Hotel, Networking, …) drumherum wenig attraktiv ist – aber das ist eine Sache unterschiedlicher Persönlichkeiten. Der Fokus liegt auf den fachlichen Inputs und eher wenigen Kontakten, das macht Onlineformate sogar attraktiver, da man zwischendrin was anderes machen kann und nicht vor Ort im Trubel warten muss bis es endlich weitergeht.

  4. Noch einen Gedanken zum Pricing von Begegnungsformaten:

    Remote und hybride Konzepte vergrößern den Möglichkeitsraum für Begegnungsformate im Hinblick auf (1) Zeit, (2) Örtlichkeit und (3) persönliche Kommunikationspräferenzen (hören, sehen, schreiben, synchron – asynchron). Plattformentwicklungen und übergeordnete Entscheidungen, die derzeit im Rahmen von New Work in Unternehmen getroffen werden, werden noch einen weiteren Einfluss auf das Verhältnis zwischen online, hybrid und Face-to-face Begegnungen haben.

    Interessant bleibt, wie sich die Aufwandskalkulation und die Preisgestaltung für die verschienden Formate weiter entwickeln. In der Abwägung der Potentiale zwischen „mehr Leute erreichen“ und andererseits „mehr Tiefgang/moments of serendipity“, werden die Preise neu verhandelt.

    Dabei ist es aber wie mit den Äpfeln und den Birnen: Wie kann man die einzelnen Aufwandsarten wirklich miteinander vergleichen? Wenn ich in online- oder hybriden Formaten Erlebnisse erzeugen will, ist das in der Regel nur mit einem asynchronen Format über mehrere Schritte möglich. Neben dem technisch-logistischen Setup (Simon weiß sicherlich ein paar Lieder davon zu singen!:-) braucht es in online Formaten mehrere Begegnungsangebote synchron und asynchron mit erheblicher Vorbereitungszeit, um Beteiligung zu halten – sowohl auf Seiten der Anbieter als auf Seiten der Kunden.

    Sowohl organisationsintern als auch in der Preiskalkulation für Angebote sind diese Vorbereitungszeiten, die bei erfolgreichen online Veranstaltungen mit Erlebnischarakter eigentlich notwendiger Bestandteil eines Gesamtprozesses sind, in der Regel nicht enthalten, und es ist auch nicht so einfach, sie mit den Kosten für Veranstaltungsräume, Reisen und Catering in Beziehung zu setzen.

    Auch das Pricing befindet sich also in einem Veränderungsprozess,
    und es wird noch etwas dauern, bis sich die Leitplanken dafür herauskristallisieren.

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