Prozessorientiertes Wissensmanagement nach ISO 9001

Mit der Neuauflage der Management-Norm ISO 9001 zum 15.09.2015 rückt das prozessorientierte Wissensmanagement wieder stärker in den Mittelpunkt der Diskussion. Die meisten Autoren und Konferenzbeiträge fokussieren dabei auf das Kapitel 7.1.6 “Organizational Knowledge”, in dem die Analyse der Geschäftsprozesse aus der Wissensperspektive beschrieben wird. Aus meiner Sicht ist die Herangehensweise aber zu verkürzt und wird dem Potential, das in der ISO 9001 steckt, nicht gerecht. In diesem Blog möchte ich kurz skizzieren, wie eine ganzheitliche Sicht auf das Wissensmanagement aus dem Blickwinkel ISO 9001 aussehen könnte.

Es ist kein Geheimnis, dass ich kein großer Fan von Modellen wie Wissenstreppe oder DIKW Pyramide (data, information, knowledge, wisdom) bin, da diese die Kausalität Daten-Informationen-Wissen zementieren und damit Wissensmanagement letztendlich immer zu einem EDV-Problem machen (siehe dazu auch Podcast M2P009 mit Prof. Capurro). Die Wissenstreppe nach North führt dennoch eine sehr wichtige und oft nicht beachtete Unterscheidung im Wissensmanagement ein (s.a. Buch Wissensorientierte Unternehmensführung. Wertschöpfung durch Wissen, S. 32). Es geht um die Differenzierung zwischen strategischem Wissensmanagement und operativem Wissensmanagement. Viele Konferenzen sind voll mit Vorträgen zu operativen Ansätzen und bei den Erfolgsfaktoren steht, das eine strategische Verankerung und damit eine Unterstützung durch die Führung für den Erfolg wichtig wäre. Zwischen den Zeilen steht meist “… und die gibt es aber nicht”.

Auch ein Blick in den Wissensmanagement-Klassiker Wissen managen. Wie Unternehmen ihre wertvollste Ressource nutzen von Probst et. al. lohnt. In Artikeln und Präsentationen wird meist nur das Modell der Bausteine des Wissensmanagements zitiert, das zwar im Baustein “Wissensziele” eine strategische Perspektive andeutet, diese aber eher mit der Wissensmanagement-Strategie in Beziehung setzt (S. 31: “Wissensziele geben den Aktivitäten des Wissensmanagements eine Richtung”). Dadurch fehlt eine explizite Kopplung zu allen anderen strategischen Aktivitäten der Organisation. Ich möchte den Blick auf Seite 41 des Buchs lenken, denn dort wird die Parallele zum klassischen St. Galler Management-Modell gezogen, das in den 1970er-Jahren von Hans Ulrich entwickelt wurde:

sg-mgmt-modell
St. Galler Management-Modell

Ein ganzheitlicher Ansatz des Wissensmanagements sollte alle drei Ebenen des Managements berücksichtigen und sich idealerweise top-down oder middle-up-down (Vorschlag von I. Nonaka) vorarbeiten. Diese Vorgehensweise wird auch in der ISO 9001 vorgeschlagen, dort heißt es: “The adoption of a […] management system is a strategic decision for an organization […]”. D.h. die Führung einer Organisation sollte bewusst die Entscheidung treffen, eine wissensorientierte Führung und Gestaltung der Organisation zu entwickeln und dafür entsprechende Rollen und Verantwortlichkeiten definieren (auf Leitungsebene können das z.B. Chief Knowledge Officer, Leiter Wissensmanagement, Wissensmanagement-Beauftragter sein). Gemäß St. Galler Management-Modell sind in einem ersten Schritt Ziele/Prinzipien/Normen/Spielregeln (geschrieben und ungeschrieben) nach ihrer “Wissensorientierung” zu hinterfragen. Auch in der ISO 9001 findet sich die entsprechende Forderung nach der Analyse des sog. Kontext der Organisation in den folgenden Dimensionen (Kapitel 4):

  • Werte, Kultur, Wissen, Leistungsfähigkeit
  • Bedürfnisse und Erwartungen von interessierten Parteien (Stakeholder, intern/extern)
  • Trends in den Bereichen Gesetzgebung, Technologie, Wettbewerber, Markt, Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft (jeweils international, national, regional, lokal)

Auf Ebene des strategischen Wissensmanagements gilt es dann die Frage zu beantworten, ob die geplanten Vorgehensweise, Geschäftsstrategien und -pläne eine Auswirkung auf die Wissensbasis der Organisation haben sollten. Hier kann es notwendig sein, Wissen auf-/abzubauen, zu entwickeln, zu (ver-)teilen und/oder zu bewahren. Als Instrumente können hier z.B. Wissenslandkarte und Wissensportfolien verwendet werden. Eine Wissenslandkarte stellt relevante Wissensgebiete z.B. in Form einer Mind Map grafisch dar. Über einfache Priorisierung kann angezeigt werden, welche Wissensgebiete aus Sicht des strategischen Wissensmanagements besonders relevant sind. Ein Wissensportfolio stellt in Matrixform relevante Wissensgebiete und Wissensträger gegenüber. Auch kann über einfache Visualisierungsansätze (z.B. Ampel-Logik rot/gelb/grün) angezeigt werden, wo besonderer Handlungsbedarf besteht. Hieraus lässt sich dann konsequent ein Portfolio an Maßnahmen des strategischen Wissensmanagements ableiten.

Im Bereich des operativen Wissensmanagements gilt es die Prozesse zu identifizieren, die besonders wissensintensiv sind. Das kann z.B. mit dem Kriterienkatalog für wissensintensive Prozesse nach Ulrich Remus erfolgen (s.a. Dissertation von Ulrich Remus, S. 116):

  • Prozessübergreifende Merkmale
    • Organisation und Kultur
    • Umfeld
    • Interprozessverflechtung
  • Prozessbezogene Merkmale
    • Komplexität
    • Variabilität
    • Strukturierungs-/Detaillierungsgrad
    • Beteiligung
    • Prozessobjekt
    • Controlling
    • Laufzeitverhalten
    • Prozesstyp
  • Aufgabenbezogene Merkmale
    • Controlling
    • Lernzeit
    • Arbeitsplatzgestaltung
    • Aufgabentyp
  • Mitarbeiterbezogene Merkmale
    • Entscheidungsspielraum
    • Regeln und Vorgaben
    • Kompetenz
  • Ressourcenbezogene Merkmale
    • Wissensmanagement-Instrumente und -Systeme
    • Wissensrepräsentation
    • Wissensaustausch
    • Wissensart
    • Zugang
    • Komplexität
    • Aktualität/Zeit
    • Budget

Auf Basis dieser Merkmale kann die Prozessstruktur der Organisation durchleuchtet und wissensintensive Prozesse (wiP) identifiziert werden. Für den Einstieg in das operative Wissensmanagement erhält man meist zu viele Prozesse, mit denen man starten könnten. Hier lohnt sich der Blickwinkel “Risk-based thinking” aus der ISO 9001 (Kapitel 0.3.3). So können beisielsweise die identifizierten wiP auf ihre Wissensrisiken hin untersucht werden. So kann es sein, dass ein stark auf Erfahrungswissen basierter Prozess als sehr wissensintensiv eingestuft wurde, das Wissensverlustrisiko aber auf Basis von geringer Fluktuationsrate und niedrigem Altersdurchschnitt der Wissensträger gering ist. Als Raster für die systematische Analyse des Wissensrisikos können z.B. die Wissensrisiken nach Bayer verwendet werden (s.a. Steuerung von Wissensriskien, S. 143):

  • Personen
    • Unbegleiteter Ruhestand
    • Beendigung der Erwerbstätigkeit
    • Unternehmenswechsel
    • Fahrlässiges Fehlverhalten
    • Vorsätzliches Fehlverhalten
  • Prozesse
    • Reorganisationsverlust
    • Nichtdokumentation
    • Nachfolgeverlust
    • Vertretungsverlust
    • Übergabeverlust
    • Zutrittsverletzung
    • Zugriffsverletzung
    • Unbegleitete Beendigung der Zusammenarbeit
  • Systeme
    • Technisches Versagen/Fehlfunktion
    • Mangelnde Wiederherstellbarkeit
  • Externe Faktoren
    • Abwerbung
    • Personalausfall
    • Diebstahl
    • Angriff auf IT-Systeme
    • Höhere Gewalt

Sind auf dieser Basis die relevantesten wissensintensiven Prozesse identifiziert, können für diese konkrete Maßnahmen des operativen Wissensmanagements eingeplant werden. Das kann im einfachsten Fall die Umsetzung des geforderten Plan-Do-Check-Act-Zyklus aus der ISO 9001 sein. Dieser fordert implizit die systematische Anwendung organisationalen Lernens auf alle Prozesse und damit die Entwicklung einer Lernenden Organisation. Alternativ können aber auch die bewährten Verfahren des (operativen) prozessorientierten Wissensmanagements wie beispielsweise SEKAM, MOCA oder GPO-WM angewendet werden.

Veranstaltungstipp: mit dem Thema Wissensmanagement und ISO 9001 werden wir uns auch beim nächsten Knowledge Jam am 26.11.2015 in Nürnberg beschäftigen. Dort werden wir uns in Tiefe mit einzelnen Maßnahmen des Wissensmanagements und deren ISO-9001-konformen Anwendung auseinandersetzen. Die Anmeldung erfolgt bequem über Xing.

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